»[L]’inconscient, c’est le discours de l’Autre.« Jacques Lacan

Auszug: […] Auch die Literaturwissenschaft, will sie nicht zu einer paranoiden Hermeneutik der Eindeutigkeit verkrusten, wird keine andere Möglichkeit haben, als sich immer wieder auf eben jenen Rest einzulassen, der sich nicht in den Netzen einer abschließenden Deutung einfangen lässt, und sich mithin auf die differierenden Bewegungen dessen einzulassen, was sich der Eindeutigkeit widersetzt – auf jenes »pluriel du texte« wie das Barthes in S/Z nennt, den Text als Pluralität.

Somit versteht man schließlich auch, warum Lacans Écrits möglicherweise so geschrieben sein müssen, wie sie geschrieben sind. Stilistisch eigenwillig, rätselhaft, obskur, verwickelt und oft geradezu empörend unverständlich, voller Sprachspiele und Fantasiewörter ähnelt dieses Buch einem poetischen Text viel eher als dem, was man gemeinhin unter ›Wissenschaftsprosa‹ versteht. Doch obwohl sie alles andere als eine Anleitung sind, in der man das Wissen der Lacan’schen Psychoanalyse konsultieren und von dort auf literarische Gegenstände applizieren könnte, stellen die Écrits gleichwohl ein Lehrbuch dar, auch für die Literaturwissenschaft. Seine revolutionäre Lektion entfaltet sich dabei genau im Prozess des Lesens, in eben jenem Rutschen der Signifikanten, das in Lacans eigenen Texten nicht nur thematisiert und analysiert, sondern zugleich auch ausagiert wird und das uns als Lesende mitschlittern lässt, unsicher und tastend, von Seite zu Seite.><

Wenn Lacan selber seine Écrits verballhornend eine unlesbare »poubellication« genannt hat, eine Publikation also für den Abfalleimer (poubelle), dann sollte, wer das Buch vorschnell und frustriert wegwerfen möchte, doch immerhin jenen ersten Text lesen, der uns klar macht, wie wichtig gerade vermeintlicher Abfall ist. Haben wir nämlich erst zu lesen anfangen, sind wir bereits ins Spiegelkabinett einer endlosen mise-en- abyme geraten: Mit den Écrits versuchen wir ein Buch zu entziffern, das sich nicht lesen lässt, an dessen Anfang wiederum der Autor eine Erzählung liest, die sich nicht zu Ende deuten lässt, in welcher die Figuren einen Brief zu behändigen versuchen, der ihnen immerzu entwischt. Doch gerade indem der Brief entwischt, reißt er die Figuren mit, verschiebt sie, gestaltet sie um, unbewusst. Und nicht nur sie, sondern auch die beiden Autoren, Poe und Lacan. Und uns dazu. Die Lesenden und die Schreibenden, die Psychoanalyse und die Literaturwissenschaft, sie alle bewegen sich auf der abweichenden Spur eines »discours de l’Autre«, eines Diskurses der niemals ist, sondern der laufend wird – immer wieder anders.

> Kompletter Aufsatz als pdf

in: Thomas Fries, Sandro Zanetti: Revolutionen der Literaturwissenschaft 1966-1971. Zürich, Berlin: Diaphanes 2019, S. 357–371.