Fußtritte: The Miracle Worker und die Gewalt des Spracherwerbs

Am Anfang ist nicht das Wort, sondern die Unterbrechung.

„Der Meister unterbricht die Stille mit irgendwas – einem Sarkasmus, einem Fußtritt. So geht in der Technik des Zen der buddhistische Meister vor auf seiner Suche nach dem Sinn. Er überträgt den Schülern selber die Antwort zu suchen auf ihre eigenen Fragen. Der Meister lehrt nicht ex cathedra eine bereits fertige Wissenschaft. Er gibt die Antwort, wenn die Schüler an dem Punkt sind, sie selber zu finden.“ (Lacan 1975, S. 7).

Es sind dies die Eröffnungsworte mit denen der Psychoanalytiker Jacques Lacan im November 1953 sein erstes, den technischen Schriften Freuds gewidmetes Seminar beginnt. Die markigen Worte markieren somit nichts weniger als Anfang und Absichtserklärung des eigenen, sich über 27 Seminare erstreckenden Unterrichts und machen bündig klar, was Lacan überhaupt unter Lehre versteht: eine Technik der Unterbrechung. So wie der Zen-Meister die Stille unterbricht, versteht auch der Psychoanalytiker seinen Unterricht als Intervention im wörtlichen Sinne: Der Lehrer verteilt Zäsuren, anstelle von Zensuren. Die Lücke tritt an die Stelle des fixfertigen Wissens.

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Wie gewalttätig das Lehren und Lernen der Sprache in Wahrheit ist und wieviel mehr es mit Fußtritten zu tun hat, als man sich eingestehen möchte, zeigt ein Film besonders anschaulich, der nichts weniger als den vielleicht berühmtesten Fallbericht von Spracherwerb zum Thema hat. The Miracle Worker von Arthur Penn aus dem Jahr 1962, nach dem Theaterstück von William Gibson erzählt die auf ihrer Autobiographie beruhende Geschichte der 1880 in Alabama geborenen Helen Keller, die im Alter von 19 Monaten in Folge einer Hirnhautentzündung ihr Seh- und Hörvermögen verlor und später berühmt werden sollte als die erste Taubblinde Amerikas, die trotz ihrer Behinderung so gut Lesen und Sich-Ausdrücken lernte, dass sie auch einen Hochschulabschluss erlangte. Als Schriftstellerin und politische Aktivistin avancierte Keller zu einer der meist porträtierten Persönlichkeiten ihrer Zeit, deren außergewöhnliche Lebensgeschichte bereits zu Lebzeiten in zahlreichen Medienformaten kursierte, sei es in diversen schriftlichen Selbstzeugnissen, sowie zahllosen Berichten über sie, aber auch als Stummfilm-Melodram Deliverance von 1919 (in dem Keller selbst auftritt), in Newsreel- und Dokumentarfilmaufnahmen, sowie, vor allem, in Form unzähliger Fotografien ihrer Person. Selbst nach ihrem Tod hört Helen Keller nicht auf, das kulturelle Imaginäre umzutreiben und unablässig weitere Texte und Bilder zu generieren, bis in die unmittelbare Gegenwart hinein. So verdichten sich an der Person Helen Kellers und ihrem kulturellen Nachleben in außergewöhnlichem Maße ein Vielzahl brisanter Fragen zu Bildpolitik und Medialität, zum Verhältnis von Behinderung und Darstellung oder zu Sprache und Imagination, wie dies unlängst in dem von Ulrike Bergermann herausgegebenen Sammelband Disability Trouble: Ästhetik und Bildpolitik bei Helen Keller schlagend vor Augen geführt wurde (vgl. Bergermann 2013).

Einen nicht unwesentlichen Anteil an dieser anhaltenden Faszination für Helen Keller dürfte mithin der Film The Miracle Worker gehabt haben, der neben zahlreichen anderen Filmpreisen den beiden Hauptdarstellerinnen je einen Oscar einbrachte. Penns Film, wie schon William Gibsons Theaterstück, auf welchem der Film beruht, konzentriert sich dabei auf die Schilderung jenes Zugangs zur Sprache, den die siebenjährige Helen Keller dank ihrer Hauslehrerin Anne Sullivan erlangt. Der Film inszeniert diesen Spracherwerb als ein Erweckungsdrama, in dessen Folge sich das zuvor wilde, tierähnliche Kind erst zu einem zivilisierten Subjekt wandelt. 

Dieses „Wunder“ einer Geburt in die Sprache, welches bereits der Titel verspricht, ereignet sich in Penns Film als Akt brutaler Gewalt: Die Erziehung des wilden Kindes verläuft über verschiedene gewaltsame Eingriffe, etwa wenn die Lehrerin das Kind von seinen, dem Kind keinerlei Grenzen setzenden Eltern trennt, um es einzig von sich und ihrem Unterricht abhängig zu machen. 

Zweikampf

Gewiss am extremsten zeigt sich die Gewalt dieses Unterrichts aber in einer Szene, die in ihrer Exzessivität den Höhepunkt des Films darstellt: Beim gemeinsamen Mittagessen beobachtet die eben frisch zur Familie gestossene Lehrerin Anne Sullivan, wie die taubblinde Helen, um den Tisch herumtastet und dabei in jeden Teller der Familienmitglieder greift, um sich daraus ein Handvoll Essen in den Mund zu stopfen, ohne dass jemand, weder Helens Vater, ihre Mutter, noch ihr Bruder sich daran stören, ja überhaupt darauf reagieren würden. Als jedoch Helen auf ihrem Rundgang um den Tisch auch beim Platz der Lehrerin ankommt und sich auch von ihrem Teller bedienen will, packt diese ihre Hand und stößt das Kind mit einer ruppigen Bewegung fort. Erst das lässt den Familienvater in seiner Diskussion mit dem Sohn über den Bürgerkrieg innehalten und fragen: „What’s the matter?“ Und die Mutter wird sogleich der neuen Lehrerin erklären, dass das Kind halt daran gewöhnt sei, sich von den verschiedenen Tellern selbst zu bedienen. „But I am not accustomed to it!“ – „Aber ich bin daran nicht gewöhnt!“ antwortet die Lehrerin darauf und bringt schließlich die Familie dazu, sie mit Helen im Esszimmer allein zu lassen. Was sich darauf entspinnt ist ein Zweikampf den Penn und sein Kameramann Ernesto Caparrós in einer sagenhaft langen Sequenz von gut zehn Minuten exaltierter Körperaktion vorführen. Unterricht wird hier buchstäblich zur Angelegenheit von Fußtritten – und noch mehr. In einer sagenhaften Parforce-Leistung ziehen, stoßen, zwicken, kratzen und schlagen sich die beiden Darstellerinnen bis zum Zusammenbruch. Wenn die Lehrerin das Kind auf eine Stuhl zwingt, springt dieses sogleich wieder auf, versucht zu entwischen, indem es über oder unter den Tisch klettert. Die Lehrerin reißt sie zurück auf ihren Platz. Das Kind schlägt die Lehrerin, die Lehrerin schlägt zurück. So geht es hin und her. Hat Helen das Essen von ihrem eigenen Teller gegessen und soll nun einen Löffel benutzen, wirft sie diesen von sich. Anne packt das Kind, ringt es zu Boden und zwingt es, den Löffel wieder aufzuheben. Will Helen sich das Essen statt mit dem Löffel mit der Hand in den Mund stopfen, pult ihr Anne die Brocken sogleich und gewaltsam wieder aus dem Mund und steckt ihr einen weiteren Löffel in die Hand, den das Kind wiederum wegwirft. Und als es Anne mit aller Aufbietung ihrer Kraft schließlich gelingt, das Kind dazu zu zwingen, sich einen Löffel mit Nahrung in den Mund zu stecken, tastet diese nach der Lehrerin, um ihr alles wieder anzuspucken. In Antwort darauf nimmt die Lehrerin einen Krug voll Wasser und leert ihn dem Kind ins Gesicht. Während das Kind noch erschrocken japst, zwingt die Lehrerin erneut einen Löffel Essen in ihren Mund und schreibt mit dem Fingeralphabet (welches das Kind erst noch wird lernen müssen) „Good girl Helen“ in dessen Hand. Danach führt sie die Hand des Kindes an ihren nickenden Kopf, um ihr so zu verstehen zu geben, dass sie ihre Lektion gelernt habe. Das Kind hingegen wird sogleich an den Haaren der Lehrerin reißen. Der Kampf geht weiter, Körper an Körper und offenbar über Stunden. […]

in: Jean-Marie Weber, ‎Manuel Zahn, ‎Karl-Josef Pazzini (Hg.): Lehre im Kino. Psychoanalytische und pädagogische Lektüren von Lehrerfilmen, Wiesebaden: Springer 2018, S. 13-35

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