Extremes Sprechen. Zur Stimme von Werner Herzog

[…] »Every system develops its own sort of extreme language« meint Herzog im Gespräch über How Much Wood Would a Woodchuck Chuck und beschreibt damit unweigerlich auch seine eigene Methode. »Extrem«, also buchstäblich grenzüberschreitend ist das Sprechen von Werner Herzog nicht nur, weil er seine Stimme in Filmen wie Lektionen in Finsternis aus der Position eines göttlichen Propheten erklingen lässt, für den die irdischen Beschränkungen nicht gelten, sondern auch, weil er aus dieser absoluten Position problemlos zum konkreten Detail springen kann, um dieses wiederum als Beleg zu nehmen, für einen universalen Zusammenhang. So führt es bereits La Soufrière (1977) vor, der in gewisser Weise eine Vorarbeit zu Lektionen in Finsternis darstellt. Dort besucht Herzog mit seinem Drehteam die karibische Insel Guadeloupe, die aufgrund eines drohenden Vulkanausbruchs evakuiert werden musste. Auf der Insel findet Herzog letzte Bewohner, die auf die Zerstörung der Insel und damit auch auf ihre eigene Vernichtung warten. Der »Bericht«, wie es im zweiten Untertitel heisst, listet dabei auf der Tonspur durchaus konkrete Daten auf (zu Historie, Drehsituation und deren Vorgeschichte) und will zugleich nichts Geringeres berichten, als von der Apokalypse. Und auch hier schwebt Herzogs akusmatische Stimme über der Landschaft, beschwört uns, wie wir diese Bilder von menschenleeren Strassen und dampfverhangenem Gebirge zu lesen haben. Krieg, so erklärte einst Samuel Fuller lakonisch, könne darum im Kino nicht gezeigt, weil in der Schlacht die Sehbedingungen zu schlecht seien: »There is smoke everywhere« Doch genau hier, wo der Rauch zu dick wird, kann die Stimme auftrumpfen, um das zu behaupten, was auf den Bildern selbst nicht zu sehen ist. La Soufrière beginnt und endet mit der Luftaufnahme dichter Dampfwolken des Vulkans. Am Anfang erklärt Herzogs Stimme, die Katastrophe sei unabwendbar. Am Ende verkündet sie, der Vulkanausbruch habe aus unerklärlichen Gründen doch nicht stattgefunden. Den Bildern aber, ist weder das eine noch das andere anzusehen, ja es ist sogar möglich, dass beide Sequenzen aus ein und demselben Drehmaterial gemacht wurden. Ob die Katastrophe abgewendet ist oder erst noch kommt, können uns die Bildern nicht sagen: There is smoke everywhere. Stattdessen müssen wir der akusmatischen Stimme glauben, die uns mal dieses, mal jenes einflüstert, wobei das wiederholte Betrachten von La Soufrière unser Urteil nur immer mehr verunsichert. Was soll man dieser Stimme glauben? Und auch die Tatsache, dass wir den Regisseur selbst mit seinem Team in ausgestorbenen Gassen und an den umwölkten Hängen herumwandern sehen, erhöht paradoxerweise nur noch den Eindruck des Fiktiven, des Inszenierten während es doch zugleich den Beweis erbringen soll, dass Herzog tatsächlich da und bereit war, auch mit seiner eigenen Existenz bis zum Extrem vorzustossen.

Herzogs Dokumentarfilme führen damit exemplarisch jenen gegenseitige Durchdringung von Fiktion und Dokument wie sie Jean-Louis Comolli bereits 1969 beschrieben hat: »Denn in dem Moment, wo das Dokument mit Fiktion besetzt und so ein wenig denaturiert, bringt es sich auf einer anderen Ebene wieder zur Geltung, indem es auf das Schwinden der Realität mit einem Zugewinn an Sinn und Kohärenz reagiert, der ihm in letzter Konsequenz dieser Dialektik womöglich eine grössere Überzeugungskraft gibt und seine ‚Wahrheit‘ nach – und wegen – diesem Umweg verstärkt.« Auf denselben paradoxen Effekt zielt denn auch Herzogs Begriff der »ekstatischen Wahrheit«, die es ihm ermöglicht, einerseits Dokumentarisches in seine Spielfilme einzubauen (man denke etwa, an die körperlich Besonderheit seiner Hauptfiguren in Auch Zwerge haben klein angefangen (1970), die Hypnose in Jeder für sich und Gott gegen alle oder die tatsächlichen Aktionen in Fitzcarraldo (1982)) als auch anderseits Fiktionales in seine Dokumentarfilme. Dass dadurch mithin die ganze Unterscheidung zwischen Spiel- und Dokumentarfilm bei Herzog wenn nicht gar unmöglich, so doch äusserst uneindeutig wird, ist offensichtlich und schon eingehend untersucht worden.
Weniger offensichtlich aber ist wohl, wie sehr gerade Herzogs Stimme das Medium dieser Vermischung darstellt, und zwar als Medium im wörtliche Sinn, also als etwas, das »in der Mitte«, zwischen Fiktion und Dokument steht und dabei sowohl in die eine als auch in die andere Richtung weist. Diese Stimme, die poetisch überhöht aus dem Nirgendwo spricht und die zugleich sofort als Herzogs eigene zu identifizieren ist, vermag beides herbeizureden, Tatsachen ebenso wie Erfindungen. Denn während Herzogs pathetischer Kommentar, der sich niemals nur bei den partikularen Fakten aufhalten mag, sondern immer aufs grosse Ganze abhebt, seine Dokumentarfilme dadurch überhöht und fiktionalisiert, so nutzt er umgekehrt auch seine Stimme, um das eigene Werk zu »dokumentarisieren«.
So pflegt der Regisseur für die DVD-Veröffentlichungen seiner Spielfilme jeweils Audiokommentare einzusprechen (mitunter sekundiert von Gesprächsteilnehmern wie den Kollegen Laurens Straub oder Crispin Glover) und wiederum sowohl auf Deutsch, wie auf Englisch. Wie bei DVD-Audiokommentaren üblich, ist dabei die Original-Tonspur des zu besprechenden Films zuweilen deutlich zu hören, wird aber immer dann zurückgenommen, wenn sich der Regisseur äussert. Herzogs neu hinzugefügtes voice-over verwandelt die Spielfilme in Dokumentarberichte ihrer eigenen Entstehung. Ja, man müsste konsequenterweise die Spielfilme mit dieser zusätzlichen Kommentarspur nochmal separat als eigenständige Werke in Herzogs Filmographie aufführen. Ironischerweise geben die im Audiokommentar berichteten, oft unglaublichen Anekdoten indes nicht nur einen realistischen Eindruck der Drehbedingungen, sondern erzeugen selbst wiederum den Eindruck einer Fiktionalisierung, einer Fiktionalisierung zweiter Stufe sozusagen: die Fiktionalisierung der Dokumentarisierung eines fiktiven Films. In seinen Audiokommentaren bespricht oder genauer: über-spricht Herzog das eigene Werk und versetzt es damit nur noch stärker in einen Zustand des Zitterns zwischen Fakten und Erfindungen, Dokument und Inszenierung.

Eben dieses Prinzip des Übersprechens der eigenen Spielfilme liegt freilich auch seinem Film Mein liebster Feind (1999) zugrunde, in welchem Herzog seine eigenen Filme erneut aufsucht und sie dabei zu Dokumenten seiner schwierigen Zusammenarbeit mit dem Schauspieler Klaus Kinski umwidmet. Indem er ihre Drehorte besucht, werden die Filme und ihre Entstehung noch einmal neu erzählt…

in: Alejandro Bachmann, Michelle Koch (Hg.): Echos. Zum dokumentarischen Werk Werner Herzogs, Berlin: Vorwerk 8 2018, S. 204-216 ///