Hors champ. Vom psychoanalytischen Feld am Rand des Films

RISS. Zeitschrift für Psychoanalyse, 23(72/73; 2009), S. 77-96 ///

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Abstract: Statt die Handlung und die Figuren von Filmen psychoanalytisch zu deuten, ist es frucht­barer in der Technik des Films nach Überschneidungen mit der Psychoanalyse zu suchen. Insbesondere der filmische Umgang mit dem Raum außerhalb des Bildaus­schnittes weist Verwandtschaften auf mit Freuds und Lacans Überlegungen zur Position des Analytikers und zum Ort der Analyse. Gerade in dem, was der Film nicht beziehungs­weise nur als Grenze seiner Bilder zeigt, gelingt es ihm, die sperrige Wahrheit der Psy­choanalyse wahrnehmbar zu machen. Die beiden hier untersuchten Meister solchen Grenzgängertums sind Michelangelo Antonioni und Douglas Sirk.

Auszug:
[…] Freud verkannte die Möglichkeiten des jungen Mediums Film in dem Masse, wie er sich um dessen Technik goutierte. Denn dem ersten Anschein zum Trotz ist das Nicht-plastische, das Abstrakte, mithin gar das Unsichtbare zentraler Bestandteil des visuellen Mediums Film, und dessen Technik immer schon mit eingeschrieben. Nicht nur, dass die bewegten Bilder auf der Leinwand zwangsläufig Simulationen eines Abwesenden sind. Auch die scheinbar realistische Bewegung des Bildes ist selbst keine Ab-Bildung tatsächlicher Bewegungen in der Natur, als vielmehr deren Simulation. Der Eindruck von Bewegtheit ist eine optische Täuschung, die auf der Trägheit des menschlichen Auges basiert, der sogenannte Stroboskopeffekt: Damit auf der Leinwand kontinuierliche Bewegungen sichtbar werden, muss ein im Kino projizierter Film diskontinuierlich durch den Projektor bewegt werden. Zuständig dafür ist die Mechanik des Malteserkreuzes, welches kontinuierliche Bewegungen in intermittierende übersetzt. Auch darf der Transport des Filmstreifens von einem Einzelbild zum nächsten nicht auf der Leinwand sichtbar sein; stattdessen muss die tatsächliche Bewegung des Filmstreifens durch den Projektor von einer Blende kaschiert werden, damit auf der Leinwand die Illusion einer Bewegung erscheint. Jedes Einzelbild wird von dieser Blende skandiert und so zeigt uns der Film nicht nur 24 Bilder pro Sekunde, sondern in der gleichen Zeit auch 24-mal eine schwarze Leinwand. Tatsächlich sitzen wir also, wenn wir ins Kino gehen und uns einen zweistündigen Film anschauen, eine ganze Stunde im Dunkeln.

Was in dieser Dunkelheit unterhalb unserer Wahrnehmungsschwelle geschieht, ist bereits ein Fort-Da-Spiel: Das eben gesehene Bild wirkt noch nach und das nächste wird bereits antizipiert. Die Illusion des Plastischen kann also erst als solche auf der Leinwand erscheinen, wenn sie von der abstrahierenden Technik, von Blende und Malteserkreuz zerhackt wird. Vom Undarstellbaren zerschnitten zu werden – das konstituiert erst die Darstellung auf der Leinwand. Der Film führt damit bereits in seiner technischen Verfasstheit vor, was Jacques Lacan am Zusammenspiel der drei Register, dem Symbolischen, dem Imaginären und dem Symbolischen hervorhebt: das Gewebe aus Symbolischem und Imaginärem erhält Konsistenz, wenn es vom inkonsistenten Realen, diesem unmöglich zu Integrierenden durchlöchert wird. Der Schnitt, die »tyche« des Realen  – so könnte man sagen – ist im Kinoautomaten immer schon mit eingebaut. Doch während diese konstituierende Skandierung des Bilderstreifens nur vermittelt wahrgenommen werden kann (etwa indem sie sich auf der Ebene der Montage, im wahrnehmbaren Filmschnitt reproduziert), umlagert dieses Reale auch in anderer Hinsicht die Bilder und Geschichten des Kinos – als jener filmische Raum nämlich, den wir nicht zu sehen bekommen und der doch immer da ist. Diesen Raum nennt man in der Filmsprache das »Off« oder – weitaus vielsagender – »hors-champ«.
[…] FORTSETZUNG

 

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